Grenzen der gesamtschuldnerischen Haftung bei der Mehrwertsteuer

Der EuGH setzt sich im Urteil vom 11.5.2006 Rs C‑384/04 Federation of Technological Industries u. a. eingehend mit der Frage auseinander unter welchen Voraussetzungen ein anderer als der Steuerpflichtiger als Gesamtschuldner miteinbezogen werden kann.

Entscheidend erscheinen mir die Aussagen folgender Randnummern:
28 Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten daher grundsätzlich, Maßnahmen zu erlassen, nach denen eine Person einen Mehrwertsteuerbetrag, der von einer anderen Person, die durch eine der Bestimmungen der Absätze 1 und 2 dieses Artikels als Steuerschuldner bezeichnet wird, geschuldet wird, gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.

29 Bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien verleihen, müssen die Mitgliedstaaten jedoch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören, beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C‑396/98, Schloßstraße, Slg. 2000, I‑4279, Randnr. 44, und vom 26. April 2005 in der Rechtssache C‑376/02, „Goed Wonen“, Slg. 2005, I‑3445, Randnr. 32).

30 Was insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, so ist daran zu erinnern, dass es zwar legitim ist, dass von dem Mitgliedstaat auf der Grundlage von Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie erlassene Maßnahmen darauf abzielen, die Ansprüche des Staates möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil Molenheide u. a., Randnr. 47).

31 Insoweit sehen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Maßnahmen vor, dass ein anderer Steuerpflichtiger als der Steuerschuldner mit diesem gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden kann, wenn dieser Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Lieferung an ihn wusste oder für ihn hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung der betreffenden Waren fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde. Es wird vermutet, dass für eine Person hinreichende Verdachtsgründe dafür bestehen, dass dies der Fall ist, wenn der von ihr zu zahlende Preis niedriger war als der niedrigste Preis, dessen Erzielung für diese Waren auf dem freien Markt vernünftigerweise erwartet werden könnte, oder niedriger war als der Preis für eine frühere Lieferung derartiger Waren. Diese Vermutung kann durch den Beweis widerlegt werden, dass der niedrige Preis der Waren auf Umstände zurückzuführen war, die mit der Nichtabführung der Mehrwertsteuer nicht im Zusammenhang standen.

32 Wenngleich Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Person, die im Zeitpunkt der an sie bewirkten Lieferung davon Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, dass die für diesen oder einen früheren oder späteren Umsatz geschuldete Mehrwertsteuer unbezahlt bleiben würde, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch zu nehmen und sich insoweit auf Vermutungen zu stützen, können diese doch gleichwohl nicht in einer Art und Weise formuliert werden, dass es für den Steuerpflichtigen praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig wird, sie durch den Gegenbeweis zu widerlegen. Wie der Generalanwalt in Nummer 27 seiner Schlussanträge festgestellt hat, würden solche Vermutungen sonst de facto ein System der unbedingten Haftung einführen, das über das hinausginge, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Staates zu schützen.

33 Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer Lieferkette gehören, die einen mit einem Mehrwertsteuerbetrug behafteten Umsatz einschließt, müssen nämlich auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können dürfen, ohne Gefahr zu laufen, für die Zahlung dieser von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen zu werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2006 in den Rechtssachen C‑354/03, C‑355/03 und C‑484/03, Optigen u. a., Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 52).

Folgende Grundsätze lassen sich daraus wohl ableiten:

  1. Gesamtschuldnerische Haftung ist möglich
  2. allerdings nur unter Wahrung der Rechtsicherheit und Verhältnismäßigkeit
  3. die Haftung ist legitim, wenn dieser Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Lieferung an ihn wusste oder für ihn hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung der betreffenden Waren fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde
  4. für den Steuerpflichtigen darf die Erbringung des Gegenbeweises nicht praktisch unmöglich oder übermäßig schwierig sein
Zusammengefasst wird dies im 1. Urteilstenor
35 Daher ist auf die erste und die dritte Frage zu antworten, dass Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er einen Mitgliedstaat ermächtigt, eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende zu erlassen, wonach ein Steuerpflichtiger, an den eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung bewirkt worden ist und der wusste oder für den hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung oder Dienstleistung fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde, gesamtschuldnerisch mit dem Steuerschuldner auf Zahlung dieser Steuer in Anspruch genommen werden kann. Eine solche Regelung muss jedoch den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u. a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören, genügen.


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